Rotzig & Rotzig by Jörg Juretzka
Autor:Jörg Juretzka
Die sprache: de
Format: mobi, epub
veröffentlicht: 2011-11-14T19:06:49+00:00
TAG 9
Wir erwachten, zugedeckt von meinem ausgebreiteten Schlafsack, eng aneinandergekuschelt auf einem Feldbett. Struppi und ich, heißt das.
In einem länglichen, schmalen, fensterlosen Raum voller Regale mit Pappkartons und Kanistern, hauptsächlich Mineralölprodukte und solche der Genussmittelindustrie: der Vorratsraum einer Tankstelle mit Cafebar. Ich quälte mich hoch, zog mich an, ließ Struppi durch die Hintertür ins Freie und begleitete ihn dann auf seiner Morgenrunde. Schnüffeln, schnüffeln, schnüffeln, pissen. Schnüffeln, schnüffeln, schnüffeln, kacken. Schnüffeln, schnüffeln, schnüffeln, und dann in fröhlichem Hoppeltrab auf dem kürzesten Weg zur Cafebar. Leyla begrüßte uns lächelnd. Ihr Augen-Make-up war heute deutlich zurückhaltender ausgefallen und erinnerte nicht länger an einen Koalabären mit Punkfrisur. Struppi bekam einen Napf voll Wasser vorgesetzt, ich einen voll Milchkaffee. Dann kriegte er einen Napf voll Hundefutter und ich einen Korb voll Croissants. Man kann sagen, wir schlabberten und mampften in einiger Zufriedenheit.
„Erzähl mir, warum du gegen die Reiffs ermittelst“, forderte Leyla wie aus heiterem Himmel. Ich hustete ein Stück Croissant aus. „Was? Tue ich doch gar nicht.“
Sie wirkte irritiert. „Aber du bist doch Detektiv?“
„Ja, sicher. Aber -“
„Und du hast Schwierigkeiten mit der Familie Reiff.“
„Ach.“ Ich winkte ab. „Mit denen hab ich eigentlich keine Probleme. Es ist die Leiterin des Mülheimer Jugendamtes, die mir Steine in den Weg legt, wo sie nur kann.“
„Trotzdem lassen die Reiffs dich nicht zu den Jungs.“ Leyla blickte sehr ernst, fast schon trotzig. „Ich meine, nicht mal für fünf Minuten.“
„Jean-Luc nimmt seinen Job als Pflegevater eben sehr ernst. Muss er wohl auch. Er hat mir von Entführungsversuchen erzählt, und von Sicherheitsauflagen.“
„Der Kindersoldat und sein Ausbilder“, sagte Leyla trocken.
„Du kennst die Geschichte?“
Sie nickte, klopfte das Kaffeesieb aus, löffelte frisches Pulver hinein, schraubte den Siebhalter wieder unter die Maschine.
„Mein jüngerer Bruder lebt bei den Reiffs“, sagte sie dann.
„Aha“, machte ich, etwas überrumpelt von dieser Auskunft. „Wieso das denn?“
„Tja.“ Leyla drehte mir den Rücken zu, klackte einen Schalter um und ließ Kaffee in eine Tasse prötscheln. Sie schien sich zu sammeln.
„Tja“, wiederholte sie, riss ein Tütchen Zucker auf, leerte es in die Tasse, nahm einen Löffel, rührte um, sah auf. Ihre Augen waren von einem dunklen, tiefen Blau, und sie blickten betrübt und verlegen zugleich. Nahezu schuldbewusst, wie mir mit wachsender Verwirrung aufging.
„Okay“, sagte sie dann wie jemand, der sich selbst Mut macht. „Es ist jetzt etwas mehr als vier Jahre her, dass meine Eltern bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen sind. Ich war damals siebzehn, mein Bruder neun Jahre alt. Unsere Eltern hinterließen uns ein wenig Geld, und das erste Jahr habe ich, mit Genehmigung des Jugendamtes, weiter für meinen Bruder gesorgt. Er ist von Geburt an geistig behindert und braucht viel Aufmerksamkeit, mehr oder weniger rund um die Uhr. Doch dann wollte ich eine Ausbildung anfangen. Und ich hatte einen Freund. Meinen ersten Freund.“ Sie sah aus dem Fenster ins trübe Winterlicht und nagte auf ihrer Unterlippe herum. „Plötzlich, Kristof, wünschte ich mir nichts auf der Welt sehnlicher als ein eigenes Leben.“ Sie brach ab, nippte an ihrem Kaffee. Ich ging im Kopf ein paar verständnisvolle Äußerungen durch, doch alle klangen entweder hohl oder patronisierend, also hielt ich einfach den Mund.
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